NOOCHRICHTE 65 (Dezember 2001)

Behindertengleichstellungsgesetz

Beratung im Ständerat

Am 2. Oktober 2001 hat das Plenum des Ständerates über das vom Bundesrat vorgeschlagene Behindertengleichstellungsgesetz beraten. Im grossen und ganzen hat er die Vorlage des Bundesrates übernommen ohne sie wesentlich zu verbessern, aber auch ohne sie zu verschlechtern. Das Gesetz räumt zwar die Möglichkeit ein, die vorgesehenen Rechte vor Gericht geltend zu machen (subjektive Rechte). Doch die Tragweite dieser Bestimmungen ist durch den eng umfassten Geltungsbereich stark eingeschränkt: Bestehende Bauten und Anlagen, die Bereiche der privaten Arbeitsverhältnisse sowie der Aus- und Weiterbildung bleiben weiterhin aus dem Geltungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen.

Wo stehen wir im Gesetzgebungsverfahren?

Im Dezember 2000 unterbreitete der Bundesrat dem Parlament einen Vorschlag zu einem Behindertengleichstellungsgesetz und stellte dieses als indirekter Vorschlag zur Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» dar. Daraufhin wurde der Ständerat als erster Rat bezeichnet und das Dossier seiner Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) anvertraut. Diese setzte sich mit dem Thema der Gleichstellung behinderter Menschen anlässlich vier Sitzungen ausein-ander. Unter anderem führte sie Hearings durch, an die sowohl Vertreter der Kantone wie auch der Behindertenorganisationen eingeladen wurden, um Ihre Sicht darzustellen.
Sowohl auf dem schriftlichen Weg an alle Mitgliedern der Kommission sowie durch gezielte Gespräche mit einzelnen Parlamentariern überreichten die «DOK» und der Verein Volksinitiative zahlreiche Ergänzungs- bzw. Änderungsvorschläge zum Gesetzesentwurf. Diese dienten als wichtige Diskussionsgrundlage für die Mitglieder der Kommission, wurden jedoch nur in einem sehr beschränkten Masse aufgenommen: Die SGK unterbreitete dem Ständerat einen Vorschlag, der nur in wenigen (nicht zentralen) Punkten von demjenigen des Bundesrates abweicht. Diese Vorlage wurde nun am 2. Oktober 2001 vom Ständerat ohne Gegenstimme angenommen. Nun stellt sich die Frage, was sie konkret beinhaltet, und wie sie – auch angesichts der in der Volksinitiative aufgestellten Forderungen – zu beurteilen ist.

Einklagbare Rechte sind gewährleistet

Während des im Herbst 2000 durchgeführten Vernehmlassungsverfahrens gehörte die Gewährleistung von Klagemöglichkeiten gegen erlittene Benachteiligungen zu den am meist umstrittenen Punkten des Gesetzes. Gegner wendeten ein, diese Rechte würden zu Prozesslawinen führen und hätten unabsehbare Kosten zur Folge. Trotz dieser Widerstände hielt der Bundesrat an diesen Rechten fest. Auch die Behindertenorganisationen
betonten immer wieder mit Nachdruck, dass dies eine unabdingbare Voraussetzung eines wirksamen Gesetzes sei. Der Ständerat ist nun ebenfalls dieser Ansicht gefolgt und nahm erfreulicherweise den relevanten Art. 7 ohne Gegenstimme an.
Auch ohne Widerstand über die Bühne ging der zwar in seiner Tragweite beschränkte (nur für den Bereich des öffentlichen Verkehrs, des Radio- und Fernsehens sowie der Telekommunikation), aber dennoch wichtige Art. 11, welcher ein «Verbandsbeschwerderecht für Behindertenorganisationen» vorsieht. Der Ständerat hat sogar eine (erweiternde) Präzisierung hinzugefügt: Nicht nur gesamtschweizerischen Behindertenorganisationen soll das Verbandsbeschwerderecht zukommen, sondern auch bereits Behindertenorganisationen, welche eine gesamtschweizerische Bedeutung haben.

Keine zusätzliche Einschränkung des Geltungsbereichs des Gesetzes

Während der Kommissionsdebatten wurde der Vorschlag gemacht, den bereits nicht sehr weitgehenden Geltungsbereich des Gesetzes insofern noch einzuschränken, als Kantone und Gemeinden nicht erfasst sein sollten. Dies hätte v.a. Konsequenzen im Bereich der Bauten und Anlagen sowie der Schule gehabt. Die Verwaltung wurde sogar von der Kommission beauftragt, einen «Light Entwurf» zu skizzieren, welcher aufzeigen sollte, wie das Gesetz eben ohne Kantone und Gemeinden aussehen würde. Auch hier ist erfreulich, dass sowohl die Kommission wie der Ständerat dieser Variante nicht gefolgt sind, sondern vielmehr den Entwurf des Bundesrates angenommen haben, welcher die Kantone insoweit verpflichtet, als es ihm die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und
Kantone erlaubt.

300 Millionen Franken als Hilfe des Bundes für den Bereich des öffentlichen Verkehrs zugesprochen

Ebenfalls unbestritten blieb der wichtige Bundesbeschluss, welcher vorsieht, dass der Bund ein finanzielle Unterstützung von 300 Mio. Franken für die notwendigen Anpassungen im Bereich des öffentlichen Verkehrs leisten soll. Obwohl dieser Entscheid klar zu begrüssen ist, erscheint der festgelegte Beitrag jedoch ungenügend, um sein Ziel zu erreichen. Letztlich wird in einer Zeitspanne von 20 Jahren ein Beitrag von durchschnittlich 15 Mio. Franken pro Jahr im Vergleich zum Gesamtbudget des öffentlichen Verkehrs von mehreren Milliarden Franken gewährt. Es muss befürchtet werden, dass ein solcher Beitrag kaum genügen wird, um die Verkehrsunternehmungen
substantiell bei ihren Anpassungen zu unterstützen.

Zwei kleine Verbesserungen im Vergleich zum Vorschlag des Bundesrates

In zwei Punkten ist der Ständerat weitergegangen als es der Bundesrat in seinem Vorschlag tat:

  • Zunächst hat er im Gesetz selber einen Art. 9 bis hinzugefügt, welcher u.a. den Bund ermächtigt, zusätzlich zu den Leistungen der IV die Förderung von Seh- und Hörbehinderten durch Kantone und private Behindertenorganisationen finanziell zu unterstützen. Ursprünglich war diese Bestimmung im ebenfalls in Erarbeitung stehenden Sprachengesetz vorgesehen; die Ständeräte haben es aber als sinnvoll erachtet, sie im Behindertengleichstellungsgesetz zu verankern. Auch wenn es anzustreben ist, dass eine solche finanzielle Unterstützung jeder Behindertenorganisation erteilt werden kann, die zur Durchsetzung der Bestimmungen des BehiG beiträgt – und nicht nur wenn sie sich um «sprach- und verständigungspolitische Anliegen hörgeschädigter sowie Sehbehinderter bemühen» – ist diese Bestimmung zu unterstützen
  • Die zweite Verbesserung betrifft den Bereich der «Steuergesetzgebung»: Behinderte Menschen sollen gemäss dem Vorschlag des Ständerates alle behinderungsbedingten Kosten von ihren Einkünften abziehen können, soweit der Steuerpflichtige die Kosten selber trägt. Der Bundesrat hatte hier eine differenziertere, für Behinderte weniger günstige Lösung entwickelt, welche vom Ständerat als zu kompliziert und nicht sinnvoll erachtet worden ist.

Und dennoch:
Keine Behebung der wichtigsten Lücken

Trotz dieser positiven Punkten ist jedoch der Entwurf, so wie er vom Ständerat angenommen worden ist, nicht befriedigend. In der Tat sind die wichtigsten Lücken, welche die Wirksamkeit des vorgeschlagenen Gesetzes in Frage stellen, nicht behoben worden

  • Es handelt sich zunächst um die Bereiche der «Aus- und Weiterbildung» sowie der «privaten Arbeitsverhältnisse». Trotz der Anerkennung der Benachteiligungen, mit welchen behinderte Menschen in diesen Bereichen konfrontiert sind, hatte der Bundesrat darauf verzichtet, entsprechende Bestimmungen im Behindertengleichstellungsgesetz vorzusehen. Auch der Ständerat ist hier nicht weiter gegangen: Er hat Minderheitsanträge von Jean Studer und Christiane Brunner, welche eine diesbezügliche Erweiterung des Geltungsbereichs des Gesetzes verlangten, mit über 30 gegen 6 Stimmen verworfen.
  • Im Bereich der Schule wurden die Vorschläge der DOK und des Vereins, welche auf eine Verankerung des Prinzips der «gemeinsamen Schulung von behinderten und nicht behinderten Kindern» zielten, ebenfalls nicht vom Ständerat aufgenommen.
  • Schliesslich bildet der Entwurf zum Behindertengleichstellungsgesetz bezüglich zwei wichtigen Punkten eine ungenügende Antwort auf die Forderungen der Volksinitiative zur Gleichstellung behinderter Menschen:
  1. Bauten und Anlagen müssen nur dann behindertengerecht gestaltet sein, wenn sie nach Inkrafttreten des Gesetzes erstellt werden oder umfassend renoviert werden.
    Bestehende Bauten und Anlagen werden also in der Regel nicht erfasst (der Begriff der Renovierung, welcher vom Gesetz vorgeschlagen wird, ist so eng, dass das Gesetz bei bestehenden Bauten und Anlagen praktisch kaum Anwendung finden wird.)
    Nur als kleines Beispiel: Die Tribüne des Saals, in welchem die Debatten des Ständerates zum Behindertengleichstellungsgesetzes stattgefunden haben, sind für Menschen im Rollstuhl nicht zugänglich. Diese Benachteiligung könnte aufgrund des vorgeschlagenen Gesetzes nicht beseitigt werden!
    Im Gegensatz zu dem verlangt die Volksinitiative, dass auch bestehende Bauten und Anlagen an die Bedürfnisse behinderter Menschen angepasst werden müssen, unter der Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit (auf Gesetzesstufe könnte dieses Prinzip z.B. auch mit der Festlegung einer vernünftigen Anpassungsfrist konkretisiert werden). Nur so kann sichergestellt werden, dass behinderte Menschen in einer absehbaren Zukunft wie andere Menschen öffentlich-zugängliche Orte benützen können
  2. Der zweite wichtige Punkt ist, dass bei der «Inanspruchnahme von Dienstleistungen von Privaten »der Schutz behinderter Menschen auf ein Minimum beschränkt ist:
    Sie können nur dann vor einem Gericht klagen, wenn sie «Diskriminierungen» (d.h. also qualifizierte, menschenunwürdige Benachteiligungen) erfahren, und nicht bei jeder ungerechtfertigten Ungleichbehandlung. Zudem ist der zu geltenden Anspruch auf eine Entschädigungssumme von CHF 5000.— beschränkt. Auch hier geht die Volksinitiative weiter, indem sie einen Anspruch auf Beseitigung jeglicher Ungleichbehandlung bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen Privater einräumt.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Vorlage, welche vom Ständerat verabschiedet worden ist, wird nun dem Nationalrat zur Beratung unterbreitet. Am 22. November 2001 hat die SGK dieses Rates die Arbeit an die Hand genommen. Das Parlament hat bis zur Herbstsession 2002 einen definitiven Entscheid bezüglich des Behindertengleichstellungsgesetzes und der Volksinitiative zu treffen.
Die DOK und der Verein Volksinitiative werden erneut jedem Mitglied dieser Kommission Ergänzungs- bzw. Verbesserungsvorschläge zukommen lassen. Diese sind das Ergebnis der Arbeiten der Arbeitsgruppe Gleichstellungsgesetz der DOK (AGG), welche aus Vertretern der wichtigsten Behindertenorganisationen zusammengesetzt ist.
Diese Vorschläge betreffen verschiedenste Bereiche (Bauten, Dienstleistungen, Erwerb, Schule, Ausbildung...), basieren aber auf der Systematik des Gesetzes, so wie es vom Ständerat angenommen worden ist.
Zusätzlich zu dieser schriftlichen Eingabe wird die DOK einzelne Gespräche mit den Parlamentariern der SGK-NR durchführen.

Von Caroline Klein, Gleichstellungsbeauftragte der DOK

Mitteilungen / Ergänzungen: eMail: ivb@ivb.ch

IVB / 08.01.2003