NOOCHRICHTE 63 (April 2001)

Bundesrat will Benachteiligung von Behinderten per Gesetz beseitigen

Mit gezielten Massnahmen im öffentlichen Verkehr und bei Bauten sowie mit einem Beschwerderecht die Benachteiligungen Behinderter abbauen: Dies will der Bundesrat mit einem Gesetz, dessen Botschaft er kürzlich verabschiedet hat. Die Initiative «Gleiche Rechte für Behinderte» lehnt die Landesregierung ab.

Als «zusätzlichen Baustein zu den bestehenden Einrichtungen, namentlich den Sozialversicherungen» bezeichnete Bundesrätin Ruth Metzler vor den Medien das Gleichstellungsgesetz für Behinderte, dessen Botschaft die Landesregierung in ihrer Sitzung verabschiedet hat. Das Gesetz solle den «Fortschritt im gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen fortführen», sagte die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes (EJPD) weiter.

Der «Fortschritt» soll primär Verbesserungen im Bereich der Infrastruktur beinhalten:

  • Das Gleichstellungsgesetz für Behinderte verpflichtet Bund, Kantone und Gemeinden, ihre öffentlichen Bauten und Anlagen behindertengerecht zu errichten. Auch öffentlich zugängliche Bauten von Privaten müssen diesem Anspruch künftig genügen. Namentlich zu Geschäften, Banken, Restaurants, Hotels, Museen, Bibliotheken, Parkanlagen, Bädern und Sportstadien müssen Behinderte problemlosen Zugang erhalten. Die Verpflichtung gilt für Bauten, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes bewilligt oder umfassend erneuert werden
  • Bauliche Anpassungen an die Bedürfnisse Behinderter sind auch im öffentlichen Verkehr vorgesehen. Bahnhöfe, Haltestellen und Anlagen zur Billettausgabe, aber auch Züge, Busse Schiffe und Flugzeuge selber sollen behindertengerecht(er) gestaltet werden. Dafür will der Bundesrat 300 Millionen Franken zur Verfügung stellen. Zur Umsetzung ist eine Frist von 20 Jahren vorgesehen.
  • Den Bedürfnissen behinderter Menschen müssen auch Wohngebäude mit mehr als acht Wohneinheiten und Gebäude mit über 50 Arbeitsplätzen entsprechen.

Zur Durchsetzung dieser Ansprüche erhalten die Behinderten ein Beschwerde- und Klagerecht.

Ein solches war im Gesetzesentwurf noch nicht enthalten – worauf sich der Bundesrat von den Behindertenorganisationen heftige Kritik hatte gefallen lassen müssen. Mit dem Klagerecht «wird die Vollzugskontrolle des Gesetzes in wesentlichen Teilen durch die Betroffenen selbst erfolgen», heisst es in der entsprechenden Mitteilung des EJPD. Das Departement Metzler betont zudem die Bedeutung des so genannten «Verhältnismässigkeitsprinzips» «Massnahmen sollen nur angeordnet werden, wenn der wirtschaftliche Aufwand vertretbar ist, sie nicht den Interessen des Umweltschutzes oder des Natur- und Heimatschutzes zuwiderlaufen und die Verkehrs- und Betriebs-sicherheit nicht beeinträchtigen.»

Unabsehbare finanzielle Folgen

Vorwärts gehen soll es auch in der Arbeitswelt – zumindest in jener des Bundes: Dieser soll nämlich die Anstellung von Behinderten fördern. Zudem werden die Kantone dazu aufgefordert, behinderten Kindern und Jugendlichen eine den Bedürfnissen angepasste Grundschulung zu gewährleisten.
Der Bundesrat erachtet das nun dem Parlament zugeleitete Gesetz als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte», die im Juni 1999 eingereicht wurde und welche die Benachteiligung Behinderter auf Verfassungsebene beseitigen will. Die Umsetzung dieses Volksbegehrens wäre schwierig und mit unabsehbaren Kosten verbunden, argumentierte Bundesrätin Metzler . Das Gesetz hingegen erlaube es, den bestehenden Verfassungsauftrag, wonach Behinderte nicht diskriminiert werden dürfen, «gezielt, verhältnismässig und mit geeigneten Fristen» zu erfüllen.

«Richtig, aber ungenügend»

Verhalten haben die Behindertenorganisationen auf die bundesrätliche Botschaft reagiert: «Das Gesetz geht in die richtige Richtung, aber es genügt nicht», sagte Mark Zumbühl, Pressesprecher von Pro Infirmis Schweiz, auf Anfrage der BaZ. So sei es enttäuschend, dass die Bereiche von Arbeit und Schule praktisch ganz ausgeklammert blieben. Dass für die baulichen Anpassungen im öffentlichen Verkehr eine Übergangsfrist von 20 Jahren vorgesehen werde, sei besonders störend. «Das ist fast schon eine Aufforderung zum Nichtstun», meinte Zumbühl.

An der Initiative wollen die Verbände festhalten. Eine grundsätzliche Diskussion Über die Verbesserung der Lebensbedingungen der rund 500‘000 Menschen, die in der Schweiz mit einer Behinderung leben, sei nur mit der Änderung der Bundesverfassung möglich, sagte Zumbühl.

Quelle: Basler Zeitung


AGILE zum Behindertengleichstellungsgesetz

Die beiden sozialpolitischen Kommissionen von AGILE in der Deutschschweiz und in der Romandie haben an ausserordentlichen Sitzungen und unter Beizug von Mitgliedern des Initiativkomitees die vom Bundesrat am 11. Dezember 2000 ans Parlament verabschiedete Vorlage für ein «Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen der Menschen mit Behinderungen» (Behindertengleichstellungsgesetz BehiGe) diskutiert. und der Vorstand hat die folgende Haltung von AGILE zum Behindertengleichstellungsgesetz beschlossen:

Wichtige Verbesserungen

Gegenüber dem Gesetzesentwurf, der im Herbst 2000 in die Vernehmlassung geschickt wurde, weist der neue Vorschlag wesentliche Verbesserungen auf.

So erhalten Menschen mit einer Behinderung ein subjektives Klagerecht bei erfahrenen Benachteiligungen und können damit Urheber von Diskriminierungen auf Verletzung des Diskriminierungsverbotes einklagen. Die Behindertenorganisationen erhalten ein Verbandsbeschwerderecht in den Bereichen Verkehr, Fernmeldewesen sowie Radio und Fernsehen. Damit sind zwei Instrumente vorgesehen, welche für die Durchsetzung des verfassungsmässigen Diskriminierungsverbots unerlässlich sind. AGILE befürwortet die Schaffung dieser Rechtsmittel und anerkennt, dass der Bundesrat diese von vielen Behindertenorganisationen gestellten Forderungen berücksichtigt hat.

In einem separaten Bundesbeschluss – als Anhang zum Gleichstellungsgesetz – will der Bundesrat 300 Mio Franken für notwendige Anpassungen zur Beseitigung von Benachteiligungen im öffentlichen Verkehr (Bahnhöfe, Rollmaterial, Kommunikationssysteme, Billetautomaten) zur Verfügung stellen. Auch dieses Vorhaben wird von AGILE vollumfänglich begrüsst: Der Bundesrat setzt damit ein notwendiges Signal in Richtung «Gleichstellung darf auch etwas kosten».

Nicht berücksichtigte Anliegen

Viele Behindertenorganisationen haben im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens auf Schwachstellen und Mängel im Gesetzesentwurf hingewiesen.
Die Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe DOK hat die Vorstellungen der Behinderten sogar in einem eigenen Entwurf für ein Gleichstellungsgesetz zur Diskussion gestellt. In vielen, für eine echte Gleichstellung aber zentralen Punkten ist der Bundesrat diesen Vorschlägen jedoch nicht gefolgt. Namentlich in folgenden Punkten weist seine Vorlage aus der Sicht von AGILE nach wie vor die folgenden Mängel auf:

  • Der Geltungsbereich des Gesetzes ist sehr eng gefasst. Sein heutiger Wortlaut wird wohl Wirkung erzielen in den Bereichen öffentlicher Verkehr und bei Bauten und Dienstleistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, bei Bauten jedoch nur bei Neuerrichtung oder bei umfassender Renovation bestehender Gebäude. Besitzer von bestehenden Gebäuden können mit diesem Gesetz nicht dazu verpflichtet werden, die notwendigen Schritte zur Sicherstellung des Zugangs zu ihren Gebäuden zu unternehmen.
  • Der öffentliche Verkehr stellt im Gesetz den Bereich dar, der am nachhaltigsten im Sinne der Gleichstellung verändert würde. Sowohl die Gesetzesbestimmungen wie auch die in Aussicht gestellten 300 Mio Franken für die notwendigen Anpassungen sind geeignet, ein behindertengerechtes Verkehrsnetz entstehen zu lassen. Hingegen sind die vorgesehenen Fristen für diese Anpassungen (20 Jahre für Bauten und Rollmaterial, 10 Jahre für Kommunikationssysteme und Automaten) für AGILE nicht akzeptabel.

AGILE ist der Meinung, dass Behinderte schon allzu lange auf die Gleichstellung im öffentlichen Verkehr gewartet haben und die Erreichung dieser Ziele selber noch erleben möchten.

  • Fast ganz vergessen werden in der Gesetzesvorlage die wichtigen Lebensbereiche Schule und Arbeit. Es fehlen Bestimmungen für die Kantone, die Integration behinderter Kinder in der Regelschule zum Normalfall zu erklären, aber auch nach Massnahmen, wie Behinderten der Einstieg ins Erwerbsleben ermöglicht werden könnte und wie sie am Arbeitsplatz vor Diskriminierungen geschützt werden sollen, sucht man vergebens. Diese Gesetzeslücken werden vor allem geistig und psychisch Behinderte auch in Zukunft benachteiligen.
  • Der Bund kann auf dieser Gesetzesgrundlage zwar Programme zur Verbesserung der Integra-tion behinderter Menschen durchführen, bzw. finanziell unterstützen. Der Bundesrat vergisst aber, eine durchführende Stelle zu benennen. Aus Sicht von AGILE muss diese Absicht glaubhaft untermauert werden durch die Schaffung einer entsprechenden Stelle, z.B. eines Büros für Behindertengleichstellung.

AGILE setzt auf mehrere Strategien

AGILE anerkennt in der Vorlage für ein Behindertengleichstellungsgesetz ein paar wesentliche Verbesserungen gegenüber dem Vernehmlassungsentwurf, stellt aber weiterhin wichtige Mängel und Lücken fest.

Diese lassen auch in Zukunft nicht tolerierbare Benachteiligungen zu und lösen den in Art. 1. Abs. 2 formulierten Anspruch «Rahmenbedingungen zu setzen, welche es den behinderten Menschen erieichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und insbesondere selbständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und fortzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben» nur teilweise ein.

Die Mängel sind von so grosser Tragweite, dass AGILE diese Gesetzesvorlage in der heutigen Ausgestaltung nicht als Ersatz für die Forderungen der Volksinitiatve «Gleiche Rechte für Behinderte» akzeptieren kann. Deshalb setzt AGILE für die weitere Entwicklung des Gleichstellungsanliegens auf die folgenden Strategien:

  1. Als erstes müssen die positiven Elemente in der Gesetzesvorlage die parlamentarische Debatte unbedingt überleben. Vor allem den Rechtsmitteln (subjektives Klage- und Verbandsbeschwerderecht) wehen kalte Bisen entgegen. Dies in erster Linie unter den Hinweisen auf eine grenzenlose Beschwerdeflut und auf ungezügelte Kosten. Das bedeutet Überzeugungsarbeit sowohl im Parlament wie auch bei erklärten Gleichstellungsgegnern wie den Wirtschaftsverbände.
  2. Als zweites muss die Lobbyarbeit im Parlament so ausgerichtet sein, dass sie zu wesentlichen Nachbesserungen führt. Und zwar namentlich in den Bereichen Geltungsbereich, Schule, Arbeit und Gleichstellungsbüro als zusätzliches Instrument zurDurchsetzung aller Gleichstellungsanliegen.
  3. Weil der Ausgang dieser beiden Bemühungen unklar ist, bleibt als drittes im Vordergrund auf die positive Wirkung der Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» zu setzen. AGILE unterstützt dabei die vom Verein Volksinitiative lancierte Sensibilisierungskampagne.

AGILE befürwortet:

  • subjektives Klagerecht bei Benachteiligungen und Diskriminierungen,
  • Beschwerderecht für Behindertenorganisationen in den Bereichen Verkehr, Fernmeldewesen, Radio und Fernsehen
  • Bereitstellung von 300 Mio Franken für Anpassungen im öffentlichen Verkehr (Bahnhöfe, Rollmaterial, Kommunikationssysteme, Billettautomaten)

AGILE bemängelt:

  • Zu enger Geltungsbereich des Gesetzes.
  • Dieser ist eingeschränkt auf Bauten, öffentlichen Verkehr und Dienstleistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind.
  • Nur Neubauten oder Gebäude, die umfassend renoviert werden, sind vom Gesetz betroffen.
  • Die Ubergangsfristen für die Anpassungen im öffentlichen Verkehr sind zu lange (10 bzw. 20 Jahre).
  • Für die wichtigen Lebensbereiche Schule und Arbeit fehlen Bestimmungen.
  • Es fehlt eine Gleichstellungsstelle zur Durchsetzung der im Gesetz vorgesehenen Massnahmen.

AGILE setzt auf drei Strategien

  1. Erhalten der positiven Elemente
  2. Verbesserungen in den bemängelten Bereichen
  3. Aufrechterhalten der Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte»

AGILE Pressedienst/März 2001

Mitteilungen / Ergänzungen: eMail: ivb@ivb.ch

IVB / 08.01.2003