NOOCHRICHTE 61 (Oktober 2000)

Sicherheit im Behindertentransport

Anlässlich der ersten schweizerischen Carrosserie- und Fahrzeugbaumesse «CARFAR» in Luzern führt der schweizerische Verband der Behindertenfahrdienste «handi-cab suisse» am Samstag 18. November 2000 ein zweites Symposium zum Thema «Sicherheit im Behindertentransport» durch, zu dem alle Verantwortlichen der Behindertentransportanbieter erwartet werden.

ms. Grundsätzlich geht es beim Begriff «Behindertentransport» um die Mobilität von Menschen mit einer Behinderung, welche die öffentlichen Verkehrsmittel nicht selbstständig benutzen können, ob mit oder ohne Rollstuhl und unabhängig vom Alter. Anderseits sind nicht alle Behinderten im Sinne der IV (Invaliden-Versicherung) auch zwingend mobilitätsbehindert (z.B. Hörbehinderte, Sehbehinderte, etc.).
Das Thema «Sicherheit im Behindertentransport» befasst sich denn auch hauptsächlich mit der Sicherheit beim Transport von Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer. Gehbehinderte werden heute wie alle anderen Fahrzeuginsassen mit Dreipunktgurten gesichert.

Geschichtliches

Der Transport von Behinderten und Betagten hat in der Schweiz seinen Ursprung in den Fünfziger Jahren. Mit dem Produktionsbeginn des ersten VW-Bus im Jahre 1956 wurde es erstmals möglich, auch die schwerer behinderten Personen an eine der zahlreichen Veranstaltungen der Invaliden-Organisationen zu transportieren.

Vor dieser Zeit konnten Behinderte oftmals das Haus / Heim nur verlassen, wenn Familienangehörige oder Verwandte sie mitnahmen. Soziale Kontakte waren stark eingeschränkt und von Mobilität redete noch niemand.

Anfänglich waren solche Transporte oftmals ein reiner Kraftakt. Die Rollstühle, erste Modelle entstanden vor und nach dem zweiten Weltkrieg, waren noch Ungetüme und für einen Transport völlig ungeeignet. Rollstuhlfahrer mussten von zwei Helfern in den Bus «umgeladen» werden. Erste Erleichterungen brachten die herausziehbaren Schiebesitze, mit denen das Umladen einfacher wurde.

Viel Pioniergeist und «basteln» machte es möglich, dass gegen Ende der Sechziger Jahre erste Fahrzeuge für den Transport von Rollstühlen zum Einsatz kamen. «Rampen» aus Holz und ein Seil als Befestigung war die einzige «Sicherheitsmassnahme», war man doch froh, überhaupt einen Rollstuhl direkt verladen zu können. Obwohl bereits 1903 das erste Sicherheitsgurtpatent in Deutschland erteilt wurde, kommen erst 1963 bei VOLVO die ersten Sicherheitsgurte (Beckengurte) serienmässig zum Einsatz. Erst Ende der siebziger Jahre wurden erste «professionelle» Sicherheitssysteme für die Befestigung des Rollstuhles entwickelt. Dabei wird der Rollstuhl am Fahrzeugboden verankert. Der Behinderte selbst wird zudem durch einen Beckengurt gesichert.

Vorschriften

Gemäss Verordnung vom 19.06.1995 über die technischen Anforderungen an Strassenfahrzeuge (VTS) sind für alle nach vorn gerichteten Sitze in Motorwagen zum Personen- und Sachentransport Sicherheitsgurten vorgeschrieben. Da nun aber nach ständiger Praxis Rollstühle nicht als Fahrzeugsitze betrachtet werden, bestehen für Plätze, auf welchen Personen in Rollstühlen mitgeführt werden, keine spezifischen technischen Anforderungen bezüglich Sicherheitsgurten oder Verankerungen. Es besteht lediglich die allgemein gültige Vorschrift, dass Mitfahrende nicht gefährdet werden dürfen. Das heisst für Fahrzeuge des Behindertentransportes, dass sie so eingerichtet werden müssen, dass die Rollstühle «zweckmässig» fixiert werden können. Weitergehende Vorschriften wurden bisher nicht ins Auge gefasst, weil mit der bestehenden Regelung z.B. behinderte Personen auch durch Familienmitglieder und Freunde transportiert werden können, die ihre Fahrzeuge mit vertretbarem Aufwand entsprechend anpassen. Zudem ist zu beachten, dass die Prüfung von Sicherheitsgurten und besonders von Verankerungspunkten aufwendig und teuer ist und schnell einmal die Kosten des eigentlichen Umbaus übersteigen.

EU-Richtlinien

Hier spricht man von sog. «Rückhaltesystemen», ebenfalls für Sitze, nicht für Rollstühle. Bei Tests muss ein solches Rückhaltesystem einen Frontalaufprall auf ein festes Hindernis bei 50 km/h verkraften können; d.h. bei über 50 km/h könnte das Ganze «davonfliegen».

Neu eingeführt wurde eine DIN-Norm (per 1.1.2000); diese verlangt ein 4-Punkt-Gurt-System, dass mechanisch mit dem Rollstuhl verbunden wird. Beschrieben sind Verankerungssysteme links oder rechts im Fahrzeug, nicht aber in der Mitte. Zur Verankerung braucht es u.a. am Rollstuhl einen sog. «Kraftknoten«, über den die Gurtensysteme laufen und der die entstehenden Kräfte auffangen soll. Bei Rollstuhl-Herstellern ist dieses Adaptersystem noch kaum bekannt. Dies lässt den Schluss zu, dass mittelfristig der Rollstuhl weiterhin das schwächste Glied in der Kette ist; dies gilt z.B. für ältere Modelle, aber zunehmend auch für moderne (Sport-) Rollstühle in Leichtbauweise. Hier gibt es auch keine entsprechenden Vorschriften.

Blick zum ÖV

Hier gibt es noch weniger klare Vorschriften als beim privaten Verkehr. In der EU z.B. gibt es einzig die «Empfehlungen» der Generaldirektion Verkehr, die unter anderem darin bestehen, den Rollstuhlbenutzer aufzufordern, darauf zu achten, dass seine Räder aufgepumpt sind und während der Fahrt im öffentlichen Verkehrsmittel die Bremsen anzuziehen...

Es liegt auf der Hand, dass weitergehende Vorschriften hier noch massivere Kostenfolgen nach sich ziehen würden als bei Privatfahrzeugen.

Problem Individualität

Die grössten «Probleme» liegen in der Individualität. Sowohl bei den Betroffenen, als auch bei den Rollstühlen. Je nach Behinderungsart ist eine einheitliche Sicherung gar nicht (oder nur sehr umständlich) möglich und über 1‘000 verschiedene Rollstuhlmodelle vereinfachen das Befestigungsproblem ebenfalls nicht. Gerade die Behindertenfahrdiens-te, welche grundsätzlich allen Behinderten (und damit auch allen Rollstühlen) zur Verfügung stehen müssen, haben damit ihre liebe Mühe. Ein weiterer wichtiger Faktor ist der wirtschaftliche Aspekt. Viele Transportdienste können Ihren Betrieb nur Dank Spendengeldern aufrecht erhalten und stehen, da das Mobilitätsbedürfnis immer weiter steigt, unter dem Druck, die vorhandenen Mittel wirtschaftlich einzusetzen. Da sind weder teure noch kompliziert anzuwendende System gefragt.

Heute werden, je nach Alter des Fahrzeuges, Zwei-, Drei- und Vierpunktgurten verschiedener Hersteller eingesetzt. Allen Sys-temen gleich ist, dass damit der Rollstuhl selbst am Boden befestigt wird und der Rollstuhlfahrer ebenfalls «angegurtet» ist.

Technische Probleme

Neben den oben erwähnten individuellen Problemen sind auch einige technische Hürden zu nehmen.

Fahrzeuge müssen entsprechend kostenintensiv umgebaut werden. Bei den heute gängigen 4-Punkt-Gurt-Systemen bedingt dies den fixen Einbau von zwei Befestigungsschienen, die auch die bei einem Unfall auftretenden Kräfte (bis zehnfaches Körpergewicht!) auffangen müssen. Gleichzeitig müssen Sie so angeordnet werden, dass sowohl der Leicht-Sportrollstuhl, als auch der schwere Elektro-Rollstuhl damit sicher befestigt werden können. Wie bereits aufgezeigt, liegt gerade dort eine der grössten Schwierigkeiten, sind doch einerseits die mechanischen Anforderungen, als auch die an die Flexibilität sehr hoch. Zusätzlich müssen entweder Rampen (Klapp-, Ausziehrampen) oder Hebebühnen eingebaut werden.

Praktisch keine Unfälle

In der Schweiz und im übrigen Europa sind kaum brauchbare statistische Angaben über Unfälle mit Rollstuhltransporten erhältlich. Einzig in den USA wurden solche Statistiken Mitte der Neunziger Jahre systematisch erstellt. Dabei zeigte es sich, dass nur ca. 1/3 aller Unfälle in denen Personen im Rollstuhl betroffen sind, ihre Ursache in ungenügender Sicherung haben (1/3 «Fussgängerunfälle»; 1/3 Unfälle beim Ein- und Ausladen). Allerdings ist auch festzustellen, dass im Vergleich zu den übrigen Unfällen im Strassenverkehr (mit Verletzten und/oder Toten) die Unfälle mit Rollstuhlfahrern nur gerade 4 Promille ausmachen

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es verschwindend wenig Unfälle im Strassenverkehr gibt, in denen Rollstuhlbenutzer zu Schaden kommen.

Dies sicher auch dank der Chauffeusen und Chauffeure, welche in diesem Bereich überaus vorsichtig und defensiv fahren.

Weshalb dann überhaupt ein Thema ?

Dass sich «handi-cab suisse» dennoch mit diesem Thema befasst hat mehrere Gründe: Zum einen sind es hauptsächlich die Ängste der Fahrerinnen und Fahrer, sowie der Betroffenen und deren Angehörigen, die immer wieder geäussert werden. Zum anderen ist der rasante technische Fortschritt und die ständige Weiterentwicklung von Systemen, welche ebenfalls zu Verunsicherungen führen (welches System ist gut und zweckmässig?). Am Wichtigsten aber ist die Sensibilisierung zum Thema überhaupt.

Im ersten Symposium im Herbst vergangenen Jahres wurde eine Bestandesaufnahme des IST-Situation gemacht. Dabei wurden neben den neuesten Untersuchungen (Crash-Test mit Rollstühlen) auch Fragen zu Versicherungen und Vorschriften behandelt.

Im einem zweiten Symposium sollen nun die neuesten Entwicklungen, Vorschriften und rechtliche Aspekte näher betrachtet werden. So wird z.B. ein, im Auftrag der CP-Stiftung, neu entwickeltes Befestigungssystem vorgestellt.

Gleichzeitig wurde in einer Arbeitsgruppe, zusammen mit dem Bundesamt für Strassen (ASTRA), eine neue Empfehlung für die Einrichtung von Fahrzeugen zum Transport von Behinderten erarbeitet, welche ebenfalls detailliert vorgestellt wird. Abgerundet wird das Symposium durch die Möglichkeit vor Ort an der CARFAR mit Carrosserie- und Fahrzeugbauern direkt in Kontakt zu treten.

Ausbildung wichtig

Neben den technischen Lösungen zur Sicherheit sieht «handi-cab suisse» einen genauso wichtigen Schwerpunkt in der geeigneten Ausbildung des Fahrpersonals. So möchte der Verband mittelfristig eine gesamtschweizerische Grundausbildung anbieten, welche sowohl von den vielen ehrenamtlichen und freiwilligen, aber auch von den professionellen Chauffeusen und Chauffeuren besucht werden kann und soll.

handi-cab suisse
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IVB / 02.12.2011