NOOCHRICHTE 60 (September 2000)

Elektronik kann Behinderten nützliche Hilfe sein

Die moderne Technik kann natürliche Defizite ausgleichen helfen

Menschen mit einer Behinderung fehlt oft die Möglichkeit, ihre Gedanken und ihre Bedürfnisse ihrer Umgebung mitzuteilen. Besonders dann, wenn ihre Stimme versagt. Früher zweifelte man an ihren geistigen Fähigkeiten. Zu Unrecht. Es gibt viele hoch begabte Schwerstbehinderte. Das beweist etwa der weltbekannte britische Astrophysiker Stephen Hawking (Universität Cambridge). Nur dank Elektronik kann er seine bahnbrechenden Forschungsergebnisse kundtun und am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Behinderte, die den Umgang mit einem PC beherrschen, lassen sich oft leichter (wieder) in die Arbeitswelt eingliedern. Denn heute stehen an den meisten Arbeitsplätzen Rechner. Dank der Elektronik erschliessen sich für Behinderte viele neue Tätigkeitsfelder, dank der Technik können manche Kinder den «normalen» Schulunterricht besuchen.

Windows ist nicht für alle Behinderten ein Fortschritt

Eines der Hauptprobleme bei der PC-Bedienung ist die Dateneingabe. Wie schaffen es Menschen, die weder Tastatur noch Maus bedienen können, den Computer mit Informationen zu füttern? Für diesen Zweck gibt es unter anderem besondere Tischtastaturen, Fusstastaturen, Zungen- und Fussmäuse. Die Minitastaturen für Muskelkranke werden mit einem Holzgriffel bedient, Grossfeldtastaturen haben vertiefte Felder. Hilfreich sind auch vielseitig verstellbare Ergotastaturen. Ferner gibt es Tastaturen, die sich am Bildschirm einblenden lassen (so genannte Bildschirmtastaturen). Für manche Bedürfnisse eignen sich berührungsempfindliche Bildschirme.
Mit der Datenerfassung allein ist es aber nicht getan. Die Steuerung von Betriebssystem und Anwendungsprogrammen bereitet noch mehr Schwierigkeiten. Grafische Benutzeroberflächen (wie etwa Mac-OS oder Windows) sind für Otto Normalverbraucher eine Wohltat. Für Blinde aber hat sich damit der Zugang zur Datenverarbeitung wesentlich erschwert, denn Bilder lassen sich im Unterschied zu Text nur schwer in eine blindengerechte Darstellung umsetzen. Grafiken können etwa als Notlösung auf Schwellpapier ausgedruckt werden. Beim Erwärmen treten die schwarzen Stellen aus dem Papier hervor und lassen sich ertasten.

Bildschirmleseprogramme erleichtern den Zugang

Für Sehbehinderte gibt es Vergrösserungsprogramme (beispielsweise für DOS und Windows). Die vergrösserten Ausschnitte müssen sich verschieben lassen. Wichtig ist, dass man die Farbgebung wählen und die Schrift umkehren kann (weisse Schrift auf schwarzem Grund). Als elektronische Lupe dienen Fernsehlesegeräte. Die Dokumente werden mit einer Videokamera abgetastet und auf einem 15 bis 17 Zoll grossen Fernsehbildschirm dargestellt.
Das vom blinden Amerikaner Ted Henter entwickelte Bildschirmleseprogramm Jaws gilt zurzeit als das beste derartige Werkzeug. Es ermöglicht Blinden den Zugang zu Windows. Damit stehen ihnen auch Nachschlagewerke auf CD und das Internet offen (die Webseiten sind jedoch oft nicht behindertengerecht gestaltet).
Blinde können die Texte mit Hilfe der Braillezeile erfühlen. Sie ist nach dem blinden Franzosen Louis Braille benannt, der 1825 die Blindenschrift erfunden hat. Die Bildschirmprogramme (Screen Reader) unterstützen neben der Braillezeile auch die Sprachausgabe. Texte, die nicht in elektronischer Form vorliegen, werden mit einem Lesegerät (Scanner) abgetastet.
Die Elektronik hat allerdings ihre Grenzen: Bei einer mehrspaltig umbrochenen Zeitschriftenseite, die Fotos, Tabellen und Kästen enthält, ist auch das beste Programm schnell am Ende seines Lateins. Und Handschriften lassen sich schon gar nicht einlesen.

Der Computer hört und spricht

Computer können nicht nur schreiben und lesen, sondern auch sprechen und hören. Für die Spracherkennung sind im Handel zahlreiche Programme erhältlich (IBM, Dragon, Philips sowie Lernout und Hauspie). Sie sind in den letzten Jahren spürbar verbessert worden, erfordern aber immer noch ein langwieriges Training. Schwierig wird es für Behinderte vor allem dann, wenn diese Systeme auch das Betriebssystem und die Anwendungsprogramme steuern müssen. Für eine perfekte Spracheingabe (ohne Sprechpausen) ist noch viel Forschung nötig. In diesem Bereich ist auch die ETH Zürich tätig (Institut für technische Informatik und Kommunikationsnetze).

Ein Wunschtraum: Tragbares Diktiergerät mit Textausgabe

Für Gehörlose wäre ein tragbares Diktiergerät, das gesprochene Äusserungen in Textform anzeigt, sehr hilfreich. Solche Hilfsmittel gibt es zurzeit allerdings noch nicht. Die technischen Anforderungen an derartige mobile Geräte sind sehr hoch: einwandfreie Spracherkennung bei verschiedenen Sprechern, grossem Wortschatz, wechselnden Umgebungsgeräuschen und unterschiedlichen Mikrofonstellungen. Ein Training des Programms wäre kaum möglich. Zudem müsste sich die Flüssigkristallanzeige mindestens für die Wiedergabe von ganzen Sätzen eignen. Sie sollte auch bei ungünstigen Lichtverhältnissen (helles Licht, Dämmerung) und bei Dunkelheit (Hintergrundbeleuchtung) lesbar sein. Überdies müsste die Akkulaufzeit ausreichen.

Natürliche oder künstliche Stimme?

Bei der Sprachausgabe gibt es zwei Verfahren: die Sprachwiedergabe und die Spracherzeugung. Bei der ersten Methode werden Wörter und Sätze vom Menschen gesprochen und digital aufgezeichnet. Das verschlingt viel Speicher. Dank der natürlichen Stimme lässt sich eine hohe Sprachqualität erzielen. Der Wortschatz ist jedoch beschränkt und wenig flexibel. Bei der Sprachsynthese werden elektronisch gespeicherte Texte in gesprochene Äusserungen umgewandelt. Die Sätze müssen dazu in ihre Bestandteile zerlegt werden.
Die Sprachanalyse ist überaus dornenvoll. Die Silben werden in Lautschrift umgesetzt. Dann werden die Phoneme (kleinste bedeutungsunterscheidende sprachliche Einheiten) über einen Synthesizer in akustische Signale umgewandelt. Der Wortschatz ist zwar umfangreich, dafür leidet die Satzmelodie. Die Texte tönen oft künstlich, manchmal sind sie schwer verständlich. Aussprachefehler lassen sich nicht ausschliessen. Da die vollsynthetische Sprache die Zuhörer ermüdet, werden heute teilsynthetische Verfahren vorgezogen. In diesem Fall werden die Phoneme von einer menschlichen Stimme gesprochen.
Dank der Sprachausgabe können sich Behinderte mit ihren Mitmenschen verständigen. Blinde können sich so Zeitungen, Zeitschriften, Bücher (unter anderem die Bibel), Telefonverzeichnisse oder etwa die elektronische Post aus dem Internet vorlesen lassen.
Seit 1992 besteht im Tessin ein elektronischer Kiosk, der neun deutsch-, drei französisch- und acht italienischsprachige Blätter zur Verfügung stellt. Sehbehinderte und Blinde können beispielsweise die «Neue Zürcher Zeitung», den «Tages-Anzeiger», die «Basler Zeitung» oder «Cash» über ein Modem aus einer Datenbank abrufen. Die eigens für diesen Zweck aufbereiteten Zeitungen können (ohne Bilder und ohne Anzeigen) in vergrösserter Schrift, mit der Braillezeile oder über die Sprachausgabe wiedergegeben werden.
Dieser Kiosk entstand auf Anregung der «Fondazione ciechi più competitivi sul lavoro» in Lugano und wird heute vom Blindenverband betrieben.

Steuergerät öffnet Fenster

Die Tätigkeit der Stiftung für elektronische Hilfsmittel (FST) in Neuenburg ist besonders verdienstvoll und segensreich. Die von Ingenieur Jean-Claude Gabus geleitete Einrichtung ist für ihre Bemühungen vielfach im In- und Ausland ausgezeichnet worden. Das FST hat neben der sprechenden Schreibmaschine «Hector» ein Steuergerät namens «James» entwickelt. Mit dieser massgeschneiderten Fernbedienung können Schwerbehinderte Hilfe anfordern, Lichtschalter, Türen, Fenster, Radio, Fernseher, die Heizung und den Blattwender (fürs Lesen von Büchern) bedienen oder auch telefonieren. Der lernfähige «James» ist stossfest und wasserdicht. Er hat 24 mehrfach belegbare Leuchttasten und arbeitet mit Infrarotsignalen. «James» kennt im ganzen 280 Wahlmöglichkeiten und lässt sich auf vielfältige Weise steuern, etwa mit dem Mund (Saug-Blas-Röhrchen), dem Lidschlag oder durch pneumatische Impulsgeber. Eine Steuerung von Geräten ist auch durch Bewegung des Kopfs oder der Augenbrauen möglich.

Wenn Behinderte oder Betagte in Not geraten, können sie über Notrufsysteme Unterstützung anfordern.

Die SWISSCOM führt in ihrem Sortiment ein solches Gerät (Telealarm). Sie bietet ferner ein Telefon für Hör- und Sehbehinderte (Pronto plus) an. Für das digitale Fernmeldenetz ISDN eignet sich Ascotel Crystal von Ascom. Neben IBM versuchen weitere Grosskonzerne (etwa Siemens, Philips, Microsoft, Apple), behindertengerechte Produkte zu entwickeln. Bewegungsfreiheit für Alzheimerkranke Ältere Leute, vor allem Alzheimerkranke, finden sich manchmal nicht mehr zurecht und irren umher. Sie daher in Pflegeheime einzuschliessen ist höchst unbefriedigend. Dank des Sicherheitssystems «Quo Vadis» lässt sich ihre Bewegungsfreiheit vergrössern. Es handelt sich dabei um ein tragbares Sende- und Empfangsgerät, das die Hilfe suchende Person erkennen und ihren Standort feststellen kann. Die Entwicklung von «Quo Vadis» wurde durch ein nationales Forschungsprogramm gefördert. Solche Überwachungssysteme sind allerdings heikel. Sie lassen sich auch für psychisch Kranke einsetzen oder auch in Gefängnissen.

Für Schwerhörige gibt es programmierbare Hörcomputer (mit Störpegelunterdrückung durch digitale Filter). Zu den führenden Anbietern gehört die in Stäfa beheimatete Phonak. Man pflanzt auch Sprachprozessoren in den Schädelknochen und den Gehörgang ein. Gleiche Rechte für die Behinderten Es gibt mehrere Hundert Hilfsmittel für behinderte Menschen. Dank einer ständigen Ausstellung in Oensingen kann man sich einen Überblick verschaffen.

Die Elektronik kann die Lebensqualität von Menschen mit einer Behinderung erhöhen und sie unabhängiger machen. Statt in einem Heim können manche zu Hause leben. Diese Hilfsmittel können menschliche Begegnungen zwar ergänzen, aber nicht ersetzen. Das machen etwa Videokonferenzsysteme und die Telearbeit deutlich, die sich bisher nur in geringem Umfang durchsetzen konnten. Die elektronischen Werkzeuge können die hohe Belastung der Angehörigen mildern. Die Handhabung elektronischer Hilfsmittel ist allerdings oft beschwerlich und ermüdend. Dennoch erreichen geübte Behinderte eine erstaunlich hohe Arbeitsgeschwindigkeit.

Trotz aller Technik bleiben Behinderte - in der Schweiz sind rund 500‘000 Personen körperlich, geistig oder psychisch behindert - in unserer Gesellschaft benachteiligt. Daher wurde am 18. August 1998 das eidgenössische Volksbegehren «Gleiche Rechte für Behinderte» vorgestellt. Empörend ist es, dass es offenbar auch Unternehmen gibt, die sich schamlos an benachteiligten Menschen bereichern.

Herbert Bruderer © Schaffhauser Nachrichten

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IVB / 08.01.2003