NOOCHRICHTE
52 (Juli 1998)
IV
in Schräglage - der Eingliederungsgedanke ist bedroht
Die
4. IVG-Revision und andere Gesetzesprojekte von Georges Pestalozzi-Seger
Die
Zahl der Invalidenrentnerinnen nimmt laufend zu, was unter anderem
auf die Entwicklung des Arbeitsmarkts zurückzuführen ist.
In der Folge ist Sparen angesagt. Damit wird die Eingliederung der
Behinderten in Frage gestellt.
Wenn
heute in der Öffentlichkeit über die Zukunft der Sozialversicherung
debattiert wird, so ist in erster Linie von der AHV und der Krankenversicherung
die Rede. Dass daneben die Invalidenversicherung im Schatten der
"Grossen" mit ebenso schwerwiegenden- wenn nicht noch
massiveren- Problemen zu kämpfen hat, ist erst am Rande zur
Kenntnis genommen worden; sehr zu Unrecht, wie die Zahlen belegen:
So weist das Betriebsergebnis 1997 bei einem Ausgabentotal von mittlerweile
7'651 Millionen Franken ein Defizit von immerhin 615 Millionen Franken
auf, und dies obschon die öffentliche Hand, d.h. Bund und Kantone,
50% der Kosten zwingend zu übernehmen haben (siehe Kasten ,
Betriebsrechnung').
Hauptursachen
für Ausgabenzuwachs: Der veränderte Arbeitsmarkt
Der
stete Zuwachs der Ausgaben und insbesondere die jährliche Zunahme
der Invalidenrentner ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen.
Im Zentrum steht aber unbestrittenermassen die rasante Veränderung
des Arbeitsmarktes:
Die
weltweite Öffnung der Märkte unter dem Titel der Globalisierung
hat die Schweizer Unternehmer unter erhöhten Konkurrenzdruck
gesetzt; viele haben als Folge davon ihren Betrieb rationalisiert.
Dabei sind durch die zunehmende Automatisierung einfacher und repetitiver
Funktionen die Anforderungen an das verbleibende Personal gewachsen.
Gewisse, früher verbreitete Arbeitsplätze sind im Rahmen
der strukturellen Anpassung verschwunden; und schliesslich hat sich
auch die sozialethische Grundhaltung etlicher Firmen insofern gewandelt,
als der Gewinnmaximierung gegenüber der sozialen Verantwortung
klare Priorität eingeräumt wird.
Als
Folge dieser Entwicklung hat die Zahl der Anmeldungen bei der IV
in den letzten Jahren enorm zugenommen: Einerseits haben viele Personen
mit beeinträchtigter Gesundheit als erste "Opfer"
der Rationalisierungsprozesse ihren Arbeitsplatz verloren; da sie
kaum noch vermittelt werden können, drängen sie zur Invalidenversicherung.
Andere wiederum sind dem erhöhten Druck am Arbeitsplatz nicht
mehr gewachsen: Die Angst, den Erwartungen nicht mehr zu genügen,
die Angst vor Arbeitslosigkeit, macht etliche Menschen krank, wobei
sich diese Entwicklung vorab in psychosomatischen, somatoformen
sowie psychischen Krankheitsbildern manifestiert.
4.
IVG- Revision: Veränderte Ausgangslage
Es
soll an dieser Stelle keine umfassende Ursachenanalyse betrieben
werde. Die Tatsache aber, dass immer mehr Personen IV-Leistungen
beantragen, die Tatsache, dass sich die Schere zwischen Einnahmen
und Ausgaben immer weiter öffnet, hat zu einer neuen Ausgangslage
für die 4. IVG-Revision geführt.
Noch
vor Jahren stand dieses Revisionsvorhaben unter einem gänzlich
anderen Stern: Damals hatte die Dachorganisationen Konferenz der
privaten Behindertenhilfe DOK sämtliche ihre Mitglieder aufgerufen,
Vorschläge zur Behebung von Mängeln im IV-System zu formulieren.
Hunderte von Anregungen wurden in der Folge bearbeitet, und schliesslich
ein umfassender Bericht mit insgesamt 24 Vorschlägen für
eine 4. IVG-Revision zu Handen der Verwaltung verabschiedet. Die
Forderungen lauteten: existenzsichernde Renten, Ersatz der Hilflosenentschädigung
durch eine Assistenzentschädigung, Erweiterung der beruflichen
Eingliederungsmassnahmen, neue Leistungen zur Förderung der
sozialen Integration.
Von
diesem nach wie vor lesenswerten Reformkatalog ist heute nur noch
am Rande die Rede. Wohl hat sich das BSV bereiterklärt, einzelne
Vorschläge im Rahmen des 2. Teils der 4. IVG Revision zu prüfen,
doch enthalten die Vorstellungen der Verwaltung diesbezüglich
noch wenig Substantielles, abgesehen davon, dass allfällige
Verbesserungen noch den Segen der Politik finden müssen. Heute
stehen ganz andere Ziele zuvorderst in der Prioritätenliste
der 4. IVG-Revision: Es geht primär darum, die Finanzen der
IV zu konsolidieren, Einnahmen und Ausgaben wieder ins Gleichgewicht
zu bringen.
1.
Teil der Revision: Mehreinnahmen
In
einem ersten Paket hat der Bundesrat dem Parlament beantragt, auf
dem Wege dringlicher Bundesbeschlüsse einerseits einen Teil
des EO-Kapitals zur IV zu transferieren, andererseits 0,1% der heute
an die EO geleisteten Beiträge zumindest vorübergehend
der IV zukommen zu lassen (EO = Erwerbsersatzordnung für Militär-
und Zivilschutzdienstleistende). Das Parlament hat im vergangenen
Jahr dem Kapitaltransfer zugestimmt, nicht aber dem Beitragstransfer.
Damit konnten zwar wenigstens die bis Ende 1997 aufgelaufenen Defizite
der IV «neutralisiert» werden; gegen die ab 1998 weiter
in der Grössenordnung von jährlich über 600 Millionen
Franken zu erwartenden Defizite sind jedoch keinerlei Massnahmen
ergriffen worden. Fazit der Übung: Das Problem ist um 2-3 Jahre
aufgeschoben, nicht aber aufgehoben worden. Der Bundesrat hat dies
mittlerweile auch erkannt: Er schlägt jetzt im Rahmen der 11.
AHV-Revision vor, der IV ab 2003 Mehreinnahmen im Umfang eines Mehrwerts
Steuerprozentes zukommen zu lassen.
Aufhebung
von Zusatzrenten und Viertelsrenten
Ebenfalls
für den 1. Teil der 4. IVG-Revision hat der Bundesrat dem Parlament
zwei «Sparmassnahmen» vorgeschlagen, nämlich die
Abschaffung der Zusatzrenten für den Ehegatten und der Viertelsrenten.
Beide Anträge haben im Dezember 1997 im Ständerat Zustimmung
gefunden; der Nationalrat ist in der diesjährigen Junisession
dem Ständerat gefolgt.
Die
Zusatzrenten für den Ehegatten liegen anerkanntermassen im
heutigen AHV-/ IV-System etwas quer, werden sie doch verheirateten
IV-Rentnern unabhängig davon gewährt, ob der Partner selber
erwerbstätig ist oder nicht. Allerdings kann der Wegfall dieser
Zusatzrenten dort zu Härtefallen führen, wo z.B. eine
Ehefrau wegen der Pflege ihres invaliden Ehemannes keiner Erwerbstätigkeit
nachgeht: Die bescheidene Invalidenrente muss dann gleich für
zwei Personen reichen. Die Behindertenorganisationen haben sich
deshalb dafür eingesetzt, dass die Zusatzrente erst dann aufgehoben
wird, wenn die Abgeltung der Pflegetätigkeit sichergestellt
ist. Diese Überlegungen haben bei Bundesrat und Ständerat
bisher jedoch keine Mehrheit gefunden.
Während
dem Vorschlag zur Aufhebung der Zusatzrenten immerhin zugebilligt
werden kann, dass damit ein echter Sparbeitrag geleistet wird (langfristig
rund 80 Millionen Franken jährlich), ist letzteres im Zusammenhang
mit dem Antrag zur Aufhebung der Viertelsrenten äusserst umstritten:
Der Bundesrat rechnet zwar langfristig mit einer Einsparung von
20 Millionen Franken (gegenüber Zusatzausgaben von 8 Millionen
Franken bei den Ergänzungsleistungen); die Behindertenorganisationen,
welche den Antrag einstimmig bekämpften, sind demgegenüber
überzeugt, dass die Abschaffung der Viertelsrenten der Versicherung
mehr kosten als einsparen wird.
Mit
der Abschaffung der Viertelsrenten würde nämlich die Idee
einer feineren Rentenabstufung wohl endgültig begraben. Diese
feinere Rentenabstufung verhindert wiederum, dass Rentner auf Eingliederungsbemühungen
verzichten in der Angst, dass ein allfälliger Mehrerwerb durch
den Verlust vergleichsweise grösserer Rentenbeiträge mehr
als kompensiert wird. Praktiker können durch's Band bestätigen,
dass dieser negative Eingliederungsanreiz überall dort in besonderem
Masse spielt, wo infolge grober Rentenstufen der Verlust an existenzsichernden
Renten besonders gross ist. In einer Zeit, da es die Bemühungen
um berufliche Eingliederung behinderter Menschen schon schwer genug
haben, müsste alles getan werden, um nicht noch zusätzliche
Schwellen aufzubauen. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass wenigstens
der Nationalrat nicht blind auf ein "Sparopfer" beharrt,
das letztlich die Misere der IV nur noch weiter beschleunigen hilft.
4.
IVG-Revision /2. Teil
Steht
der 1. Teil der 4. IVG-Revision unmittelbar vor dem Abschluss, so
bleibt der 2. Teil dieses Revisionswerkes noch relativ wage. Wohl
hat die Verwaltung einige Vorstellungen bereits formuliert, doch
wird vieles noch zu erarbeiten sein: In diesen Tagen sollen insgesamt
8 Arbeitsgruppen gebildet werden, welche diverse Vorschläge
zu diskutieren habe. In einigen dieser Arbeitsgruppen werden auch
Mitarbeiter von Behindertenorganisationen Einsitz nehmen können.
Thematisch geht es dabei einerseits um die Fortsetzung der Sparbemühungen
(teilweise Verlagerung der medizinischen Massnahmen in die Krankenversicherung
oder zumindest Angleichung des Leistungsniveaus), andererseits aber
auch um die Prüfung neuer Modelle für die Finanzierung
von Pflege und Betreuung ("Assistenzentschädigung")
sowie von Anreizmodellen zur Förderung der Eingliederung in
den Arbeitsmarkt. Wie weit die Verwaltung dabei auch bereit ist,
völlig neue Ideen aufzunehmen und umzusetzen, wird sich noch
weisen müssen...
Neuer
Finanzausgleich Bund Kantone
Bereits
1998 werden im Rahmen des Grossprojekts für einen neuen Finanzausgleich
und eine neue Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen erste Weichen
gestellt: Im Spätherbst ist der Start zur Vernehmlassung über
eine Reihe von Verfassungsund Gesetzesvorlagen vorgesehen, welche
unter anderem auch die Invalidenversicherung massiv tangieren: Denn
was die verwaltungsinternen Arbeitsgruppen hier vorschlagen, ist
nichts anderes als die Demontage des Eingliederungssystems der IV,
welche bisher in einer fruchtbaren Ergänzung von individuellen
und kollektiven Leistungen des Ziel einer bestmöglichen Integration
behinderter Menschen in das berufliche und soziale Leben zu verwirklichen
versucht hat. Bedroht sind einerseits die individuellen IV-Massnahmen
im schulisch - pädagogischen Bereich, anderseits aber auch
die Beiträge an Sonderschulen, Eingliederungsstätten,
geschützte Werkstätten, Wohnheime, Ausbildungsstätten,
Transportdienste und Beratungsstellen der Behindertenhilfe.
Die IV soll sich aus all diesen Bereichen zurückziehen, welche
Aufgaben von den Kantonen zu übernehmen wären. Es braucht
kaum viel Phantasie um zu erahnen, dass in einem solchen Fall bald
einmal alle Ansätze einer gesamtschweizerischen Behindertenpolitik
verschwinden und an ihre Stelle 26 verschiedene kantonale Konzepte
mit inhaltlich und leistungsmässig höchst unterschiedliche
Angebote treten würden. Gegen dieses Projekt ist deshalb bereits
entschiedener Widerstand angekündigt worden.
Zusammenfassung
Dank
der Invalidenversicherung konnte seit 1960 die berufliche und soziale
Integration behinderter Menschen stetig verbessert werden. Nun drohen
aber die Entwicklung des Arbeitsmarktes auf der einen Seite und
Gesetzesprojekte mit erklärten oder nicht erklärten Sparzielen
anderseits das Aufgebaute wieder in Frage zu stellen.
Es
wird deshalb einer guten politischen Präsenz bedürfen,
um einen grösseren Schaden zu vermeiden. Es wäre allerdings
verfehlt, in eine reine Defensivstrategie zu verfallen; neue Ideen
und Modelle sollen durchaus auch heute und in Zukunft Platz finden-
wenn sie wirklich im Interesse einer aktiven Teilnahme behinderter
Menschen am gesellschaftlichen Leben entwickelt werden.
Mitteilungen
/ Ergänzungen: eMail: ivb@ivb.ch
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