NOOCHRICHTE 48 (Juni 1997)

Was ist eigentlich ein Behinderter?

Diese Frage wurde schon tausendmal gestellt und wurde wahrscheinlich 999 mal anders beantwortet. Nein, nein. Dies soll nicht ein weiterer Versuch sein, den Begriff "Behinderte" zu definieren ­ Das ist fast ein Ding des Unmöglichen Vielmehr möchten wir dieses Problem einmal von einer ganz anderen Seite angehen und betrachten.

Richtigerweise reagieren die Behinderten (welche eigentlich?), wenn Sie von der sog. "normalen" Gesellschaft diskriminiert und ausgeschlossen werden. Behinderte entsprechen nicht den "Normen" unserer Gesellschaft, obwohl das ganze Leben in irgendwelchen Normen organisiert ist; Schuhgrösse 40 ist überall gleich gross (meistens jedenfalls). Da passen keine "Abnormalen" hinein. Am Arbeitsplatz gelten ebenfalls Normen und Sollvorgaben, die erreicht, erfüllt oder eingehalten werden müssen/sollen. Deshalb ist es nur verständlich, wenn von den Behinderten eine gesetzliche Verankerung der Gleichstellung und Antidiskriminierung gefordert wird. Genauso verständlich ist die Forderung nach behindertengerechtem Bauen und einem behindertengerechten öffentlichen Verkehr, usw.

Aber Achtung ­ Da beginnen die ersten Probleme: Welche der Behinderten-Normen sollen angewendet werden ? Sind es die der Rollstuhlfahrer, der Gehbehinderten, der Betagten, der Sehbehinderten, der Gehörlosen oder welche ? Jede Behinderungsart hat ihre eigenen Probleme und, ja jetzt kommt es, Normen! Und jede Gruppierung von Behinderten beharrt leider nur auf "ihren" Normen und Problemen.

Einige Beispiele?

Das Zentrum für selbstbestimmtes Leben (ZSL) und andere organisierten eine Demo im Bahnhof Bern, um auf den Misstand aufmerksam zu machen, dass in den neuen IC-2000 Doppelstockwagen die Rollstuhlplätze wegrationalisiert wurden. Die Rollstuhlfahrer werden in einen "Ghetto-Wagen" am Anfang (oder Ende) der Zugkomposition gedrängt. Der neue ebenerdige Einstieg ist "nur" für Gehbehinderte ideal "Obwohl Studien in Deutschland gezeigt haben, dass 3 - 5% der Bevölkerung mit der Überwindung einer Stufe Mühe haben. In der Schweiz sind es rund 350'000 Menschen, die gehbehindert sind, 35'000 davon, d. h. rund 0,5% der Bevölkerung, sind auf einen Rollstuhl angewiesen." (Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen).

Christoph Eggli (der "Meckerer vom Dienst, wie er sich selbst bezeichnet) frohlockt in seiner Kolumne des Informationsbulletins der Schweizerischen Fachstelle für behindertengerechtes Bauen (Nr. 27/April 97) über das "Rampenmuseum" in Basel. Da hat es doch wirklich Mario Botta fertiggebracht, eine schöne lange Rampe im neuen Tinguely-Museum einzubauen, auf der ein Elektrorollstuhl hinauf und hinuntersausen kann. "Aus der Sicht des Behinderten gibt es bei diesem Museum nichts zu kritisieren" Doch Herr Eggli, wo ist der Handlauf für die Gehbehinderten, die Orientierungshilfen für die Sehbehinderten ?
· Die verschiedenen Behindertentransportdienste werden immer wieder von den Behinderten angegriffen, sie würden zu viele Betagte transportieren. "Das kann doch nicht angehen, Ihr seid doch für uns da..., Betagte sind doch keine Behinderten...." Dies ist nur eine kleine Auswahl, doch sie zeigt die Problematik sehr deutlich auf.

Behindert ist nicht gleich Behindert!

Und genau in dieser Diskrepanz oder besser "Arroganz" liegt des Pudels Kern. Solange Behinderte ihre "Leidensgenossen" nicht akzeptieren und mit Ihnen gemeinsam Probleme angehen, solange wird sich nicht sehr viel ändern. Einzelprobleme und der Ruf nach Sonderlösungen für eine Gruppierung werden immer weniger ernst genommen. Oder werden möglicherweise als Argument gegen eine andere Gruppierung vorgebracht. Auch wenn es verständlich ist, das die "Aktivisten" der Behindertenszene ihre Probleme in den Mittelpunkt stellen und nach Selbstbestimmung rufen, so ist doch gerade die Solidarität und das Gemeinsame, die stärkste "Waffe" gegen Diskriminierung. Solange jeder nur zu "seinem Gärtchen" schaut und nur seine Probleme sieht, solange werden schlechte Lösungen die Realität bleiben. Gerade im Zusammenhang mit der Gleichstellungsinitiative wird dies besonders wichtig werden, dass auch Altersbehinderte (Betagte) ebenso eingeschlossen sind, wie die Rollstuhlfahrer, die psychisch Behinderten, die Gehörlosen, die Sehbehinderten und alle anderen, die eigentlich dazugehören.

Da wird es dann enorm wichtig, den Begriff "Behinderte" genauer zu definieren.

Unser gesellschaftliches Leben funktioniert halt nun mal nach Normen, also muss auch eine "Norm" gefunden werden, die alle Bedürfnisse aller Behinderungsarten einschliesst und jeweils "lauthals" gefordert wird.

Allen Menschen recht getan ist ein Ding, das niemand kann!

Eine weitere Grundvoraussetzung ist die Kompromissbereitschaft. Wenn jede Behinderungsart ihre Forderung durchsetzen will, so wäre es an der Zeit, dass auch ein Gedanke an die Konsequenzen für andere Behinderungsarten "verschwendet" wird. Eine Rampe für Rollstuhlfahrer ohne Geländer für Gehbehinderte und Orientierungshilfen für Sehbehinderte ist eine schlechte Lösung.

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IVB / 08.01.2003