NOOCHRICHTE 62 (Dezember 2000)

Handicap X

Unter http://www.lernwelten.ch sind die Seiten von «Handicap X» erreichbar.

«Handicap X» ist auf der Basis der Arbeitsmappe «Bahn frei für Rollis!» von Christine Fischer entstanden, einem Unterrichtsmittel von 1998, das von den führenden Behinderten-(+Selbsthilfe)-Organisationen der Schweiz viel Lob erhalten hat und stellt ein neues und einzigartiges Lehrmittelprojekt dar, zur interaktiven und aktuellen Vermittlung (regelmässige Aktualisierungen) eines sinnvollen Themas.

Zugleich lernen die Jugendlichen- als primäres Zielpublikum (aber nicht nur!!!) mit dem Internet umzugehen - womit gleichzeitig diverse Lernziele erfüllt werden...

Christine Fischer hat als Lehrerin ein Lehrmittel verfasst, mit dem Jugendliche Zugang zur Thematik «Körperliche Behinderung» finden. Sie schrieb für «Handicap X» Texte, beschaffte Materialien und Adressen und begutachtete den Inhalt der Lernwelt fachkundig. Sie ist für die Beschaffung der News und die Aktualisierung alleine zuständig.

Im nachfolgenden Interview, dass ebenfalls auf den Internetseiten zu finden ist, wird die Autorin näher vorgestellt:

Schul-Materialmappe «Bahn frei für Rollis!»

Christine Fischer ist seit 1983 vorwiegend als Sekundarlehrerin im Kanton Aargau tätig. Sie hat auf verschiedenen Ebenen Erfahrungen mit Behinderungen und Behinderten.

Christine, du hast für die Schule die Materialienmappe «Bahn frei für Rollis!» zum Thema: körperliche Behinderung» ausgearbeitet. Wie bist du dazu gekommen?

Es war vor Weihnachten 1994. Mit einer 3. Sek.-Klasse las ich das faszinierende Lebensbild eines Querschnittgelähmten. Die Klasse entschied spontan, diesem Rollstuhlfahrer einen Brief zu schreiben, in dem sie ihre Gedanken kundtun wollte. Einige Wochen darauf wurden die Schülerinnen und Schüler eingeladen, dem Schweizer Paraplegiker Zentrum in Nottwil einen Besuch abzustatten. Die Jugendlichen erbaten sich einige Tage Bedenkzeit, um zu entscheiden, ob sie dieser Einladung Folge leisten wollten oder nicht. Ängste, alles falsch zu machen, Hemmungen, Vorurteile - dies alles stieg hoch, es wurde diskutiert, und schliesslich stellten sich die Schülerinnen und Schüler dem Unbekannten unter der Voraussetzung, dass sie vorgängig gründlich ins Thema «Behinderung» eingeführt werden wollten. Diese Forderung veranlasste mich als Klassenlehrerin dazu, nach geeigneten Materialien zu suchen. Dies gestaltete sich recht schwierig, da wenig aktuelle Lehrmittel vorhanden waren. So ging ich selber an die Ausarbeitung einzelner Arbeitsblätter und Projekte.

Und wie lief das Projekt mit deiner damaligen Klasse?

Die Jugendlichen waren nach anfänglichen Bedenken begeistert; verschiedene Aktivitäten - auch mit Behinderten zusammen - folgten. Es stellte sich bald heraus, dass es mehrerer Begegnungen mit Körperbehinderten bedurfte, um sich wirklich miteinander auseinander zu setzen. Es lohnte sich, es war eine tolle Sache. Die Jugendlichen sagten nachher, dass dieses Projekt ihnen die Angst gegenüber Behinderten genommen habe. Jetzt sähen sie den Rollstuhl nicht mehr, sondern den Menschen, der darin sitzt. Eine Schülerin meinte, sie könne sich jetzt vielleicht auch besser mit andern Mitmenschen verständigen, weil sie gelernt habe darauf zu achten, wie andere reagieren.

Warum ist es deiner Meinung nach wichtig, sich mit behinderten Menschen auseinander zu setzen?

Nichts garantiert, dass nicht jede und jeder von uns einmal dazu gezwungen würde, sich mit Behinderung oder Krankheit - der eigenen oder einer in der Familie oder im Freundeskreis - zu beschäftigen; weniger als 5% aller Behinderungen sind angeboren, über 95% werden im Laufe eines Lebens erworben! Ich finde es sehr wichtig, dass wir über Hemmungen, Ängste und Vorurteile gegenüber Behinderten nachdenken und für die Probleme, die in diesem Zusammenhang in unserer Gesellschaft bestehen, sensibel werden. Wir sollten fähig sein, Behinderte und direkte Begegnungen mit ihnen als selbstverständlich zu betrachten. Selbstverständlichkeit setzt voraus, dass man selber versteht.

Aber in der Schule ein Arbeitsblatt zu bearbeiten, ist ja kein direkter Kontakt…

Sicher nicht, nein! Die Arbeit mit den Kopiervorlagen -oder auch diese Lernwelt auf dem Internet - ersetzt keineswegs den persönlichen Kontakt. Am besten sind möglichst viele gemeinsame Aktivitäten. Ich wollte Anregungen geben und Informationen, die dazu beitragen, Berührungsängste abzubauen und Barrieren zu überwinden. Ich wollte auch dazu motivieren, sich der Thematik zu stellen. Gerade in der heutigen Zeit, wo die Gleichstellung der Behinderten diskutiert wird und die behinderten Menschen wieder vermehrt ausgegrenzt werden.

Du wendest dich damit an Leute, die selber nicht behindert sind?

In erster Linie schon, und ich hoffe, dass ich mit meiner Arbeit zwischen Nichtbehinderten und Behinderten ein wenig vermitteln kann, dass ich eine Brücke bauen kann. Es ist eben auch für viele Behinderten - und deren Angehörige - manchmal schwierig und kräfteraubend, offen auf Nichtbehinderte zuzugehen und sie aus ihrer Befangenheit herauszulocken. So verschanzen sich viele behinderte Menschen lieber in den eigenen vier Wänden, um sich schmerzliche Erfahrungen mit nichtbehinderten Menschen und frustrierende Erlebnisse zu ersparen, und versuchen erst gar nicht, am öffentlichen Leben teilzunehmen.

Du selber bist nicht körperbehindert. Kannst du da - von aussen - die Situation von Behinderten nachvollziehen und verstehen?

Ich habe mit vielen mobilitätsbehinderten Leuten und auch mit solchen, die mit Behinderten viel zu tun haben, zusammengearbeitet; auch das Lernmittel habe ich unter ständiger Begleitung und Beratung eines Körperbehinderten erarbeitet. Ohne all diese tollen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hätte ich mich nie an ein solch umfangreiches Projekt gewagt; es hätte auch keinen Sinn gemacht. Die Folgen eines Autounfalls liessen mich zudem selbst ein Stück weit Erfahrungen mit dem Behindertsein machen. Auch sind zwei Kinder in unserer Familie körperbehindert. In meinen Materialien kommen zahlreiche Behinderte selber zu Wort. Es ist ganz wichtig, dass wir nicht immer über Behinderte reden, sondern mit ihnen, und dass sie selber zu Wort kommen.

Juni 1998, Interview: Marlise Müller

Auf den Seiten von «Handicap X» sind die Rubriken «Hallo Leute», «Activities», «BilderBox», «InfoBox» und «Mix» zu finden.

Geschichten von jugendlichen Behinderten und Nichtbehinderten, Gehörtest, Quiz und Experimente, Bilder und Skulpturen, Reportagen und Lexikon sowie Cartoons und Comix runden das vielfältige Angebot ab, dass gezielt die Interaktivität mit Jugendlichen sucht.

Bestelladresse von "Bahn frei für Rollis!" www.bahnfrei.ch.vu

Mitteilungen / Ergänzungen: eMail: ivb@ivb.ch

IVB / 12.01.2004