NOOCHRICHTE 49 (September 1997)

Wie viele Alte sind genug?

Unbegründete Ängste aufgrund der Bevölkerungsentwicklung?

Die sogenannte Überalterung der Gesellschaft macht vielen Menschen angst. Sie befürchten, die Altersvorsorge sei nicht mehr finanzierbar. Wie der folgende Text zeigt, ist ein hoher Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung jedoch grundsätzlich etwas Positives. Um die damit verbundenen Übergansprobleme zu meistern, gilt es veraltete und falsche Ideen über Bord zu werfen.

Zum Einstieg eine Frage: Welche drei Länder werden in den nächsten zwei Jahrzehnten den stärksten relativen Anstieg in der Zahl älterer Menschen erleben? Wahrscheinlich wird niemand von Euch die richtige Antwort kennen. Die drei Länder mit der inskünftig ausgeprägtesten demographische Alterung ist inzwischen zu einem globalen Prozess geworden, der in den nächsten Jahrzehnten die Länder der Dritten Welt weitaus stärker berühren wird als etwa die Schweiz.

Ein wesentlicher Teil der aktuellen Diskussion zur demographischen Alterung unterliegt Missverständnissen und sozialpolitischen Einseitigkeiten. So wird nicht selten verkannt, dass die demographische Alterung primär durch den Geburtenrückgang und weniger durch die Erhöhung der Lebenserwartung bedingt ist. Demographische Alterung ist sozusagen die "Bremsspur" eines Geburtenrückganges, und ein rascher Geburtenrückrang ist global notwendig, um das enorme Wachstum der Weltbevölkerung aufzuhalten.

Demographische Alterung ist im Grund genommen die Lösung des Problems (Bevölkerungsexplosion) und nicht das Hauptproblem.

Untersuchungen aus Ländern der Dritten Welt belegen, dass viele Kinder (aufgrund hohem Geburtenrückgang) sozialpolitisch sehr viel mehr Probleme und Belastungen bringen als viele alte Menschen. Wer die demographische Alterung beklagt, verkennt somit wichtige Zusammenhänge. Er verkennt vor allem die Tatsache, dass demographische Alterung zwangsläufig ist, soll eine Bevölkerung nicht über das ökologisch tragbare Mass hinaus expandieren.

Gleichzeitig ist ein hoher Anteil älterer Menschen historisch ein zivilisatorischer Fortschritt. Ein geringer Anteil älterer Menschen war und ist immer ein Zeichen für brutale demographische und soziale Zustände.

Die im Titel des Vortrags angesprochene Frage "Wieviel Alte sind genug?" lässt sich somit vereinfacht wie folgt beantworten: Nur eine hohe Zahl alter Menschen zeugt von hoher Lebensqualität. Das Grundproblem sind nicht zu viele ältere Menschen, sondern zu viele veraltete und falsche Ideen zum Alter.

Alter und sozialpolitische Konsequenzen

Mit der vorher aufgeführten Aussage soll nicht verneint werden, dass eine steigende Zahl alter und betagter Menschen nicht ohne Probleme ist, und seien es auch nur Anpassungs- und Umstellungsprobleme zu einer neuen Situation. Tatsächlich lässt sich nachweisen, dass unsere Gesellschaft die Umstellung von geringer zu hoher Lebenserwartung noch nicht voll bewältigt hat. Darauf deuten auch all die negativen Vorurteile, die mit Alter assoziiert werden und die oft zu Fehleinschätzungen führen. In einer 1992 durchgeführten Umfrage der Coop-Zeitung mussten die Befragten einschätzen, wie hoch der Anteil der Rentnerlnnen sei, der in Alters- und Pflegeheimen lebe. Nach Ansicht des durchschnittlichen Befragten waren es gut 40 Prozent, und auch Fernsehdirektor Schellenberg schätzte in einem Interview, dass gut 30 Prozent aller Rentnerlnnen in Altersheimen leben. Tatsächlich sind es nur 8,3 Prozent, wobei selbst bei den über 80- jährigen gut 78 Prozent in Privathaushaltungen leben. Wissenschaftliche Untersuchungen weisen immer deutlicher darauf hin, dass die Gleichung "alt = arm, krank, einsam und abhängig" zumindest für die Mehrheit der Betagten nicht gilt. Das Risiko einer chronischen Erkrankung nimmt zwar mit steigendem Alter zu, aber Pensionierte bleiben gerade in der Schweiz im allgemeinen recht lange gesund und aktiv. Die sogenannt behinderungsfreie Lebenserwartung ist für Schweizer Rentner und Rentnerinnen vergleichsweise lang. Männer im Alter von 65 Jahren können heute mit einer Lebenserwartung von 15,5 Jahre rechnen, davon werden im Durchschnitt 12 Jahre ohne Behinderungen verbracht. Bei 65- jährigen Frauen beträgt die Lebenserwartung 20 Jahre, davon 15 Jahre ohne Behinderungen.

Auf der anderen Seite hat die soziale und medizinische Revolution der letzten Jahrzehnte nicht nur zu vielen gesunden Lebensjahren geführt, sondern auch dazu beigetragen, dass die letzte Lebensphase oft durch langjährige Pflegebedürftigkeit gekennzeichnet ist. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Infektionskrankheiten dazu beigetragen, dass langjährige Pflegebedürftigkeit relativ selten war. Heute ist sie für den letzten Lebensabschnitt häufig. Viele der heutigen Alterskrankheiten - wie Demenz, Arthrose, Osteoporose usw. - führen zwar zu deutlichen Behinderungen der Alltagsaktivitäten, jedoch nur langsam zum Tod. Dies bringt es mit sich, dass die Lebenserwartung selbst stark pflegebedürftiger Personen - das heisst Personen, die sechs von sechs negativen ADL-Kriterien erfüllen - in der Schweiz recht hoch ist. So kann eine stark pflegebedürftige Frau von 75 Jahren durchschnittlich noch mit 4,5 Lebensjahren rechnen. Eine 85- jährige hoch pflegebedürftige Frau lebt im Durchschnitt noch gut 3 Jahre.

Diese Zweiteilung des Alters - einerseits eine erste Phase hoher Autonomie und guter Selbstentfaltungsmöglichkeiten, andererseits eine Phase zunehmender Hilfs- und Pflegebedürftigkeit in der letzten Lebensphase - wird auch inskünftig bestimmend sein.

Im Rahmen dieser Entwicklungen haben sich die Alterseinrichtungen zusehend von sozialen Institutionen zu sozialmedizinischen Dienstleistungen gewandelt. 1973 verteilten sich die Heimplätze für ältere Menschen zu 71 Prozent auf Altersheime und zu 29 Prozent auf Pflegeheime. Heute sind nur noch 6 Prozent aller Heimplätze für ältere Menschen in eigentlichen Altersheimen ohne Pflegecharakter zu finden. Wie das Bild des Alters wird auch das Bild der Alters- und Pflegeheime noch stark durch Vorstellungen geprägt, die im Grunde aus dem 19. Jahrhunderts stammen.

Zur zukünftigen Entwicklung - mit speziellem Bezug auf Alterseinrichtungen

Die vorhandenen statistischen Daten vermitteln nur ungenügende Informationen zum Bedarf nach Alters- und Pflegeheimplätzen. Vor allem enthält die statistische Kategorie "Kollektivhaushaltungen", die verschiedensten Formen kollektiven Wohnens. 1990 wohnten allerdings 91 Prozent der älteren Personen in sogenannten Kollektivhaushalten in Alters- und Pflegeheimen. Der Rest befand sich in Gefängnissen, Anstalten oder Klöstern usw.

Eines ist jedoch klar: In den letzten drei Jahrzehnten (1960-1990) hat sich die Zahl der älteren Menschen, die in institutionellen Einrichtungen wohnen, verdoppelt. 1960 lebten 7,4 Prozent der über 65jährigen Personen in Institutionen, 1990 waren es 8,3 Prozent . Die Zunahme der Zahl der in institutionellen Einrichtungen lebenden älteren Menschen (1960: 40'900 Personen, 1996: rund 88'000 Personen) war, wie entsprechende Berechnungen zeigen, hauptsächlich eine Folge der demographischen Alterung (zunehmende Zahl älterer und vor allem hochbetagter Menschen). Gleichzeitig stieg das Alter beim Heimübertritt wesentlich (ohne diese Verzögerung wäre die Zahl der Heimbewohnerlnnen noch weitaus rascher gestiegen. 1990 waren denn gut 70 Prozent aller Heimbewohnerlnnen 80 Jahre und älter (wogegen dies 1970 noch weniger als 50 Prozent waren).

Geht man von der voraussichtlichen demographischen Entwicklung aus, dürfte sich der Bedarf nach Plätzen in institutionellen Einrichtungen für ältere Menschen gesamtschweizerisch von heute rund 88'000 Personen bis zum Jahre 2010 auf 116'000 bis 118'000 Personen erhöhen. Selbst unter Annahme, dass nur noch wenig Leute vor dem Alter 80 in ein Heim übertreten, wird sich der Bedarf an Heimplätzen deutlich erhöhen, und zwar einfach, weil sich die Zahl hoch und höchstbetagter Menschen entsprechend erhöht.

Es gibt allerdings drei Entwicklungen, die zu wesentlich tieferen Zahlen führen könnten: Erstens der Bedarf wird nicht gedeckt. Nicht angebotene Heimplätze können nicht besetzt werden. Zweitens, es werden auch für schwer pflegebedürftige Betagte Formen der häuslichen Pflege entwickelt. Dies scheint vielfach schon aus Kostengründen wenig sinnvoll. Drittens, es gelingt, Pflegebedürftigkeit auch im hohen Alter präventiv zu verhindern. Entsprechende Pilotstudien, ob dies dank multidimensionalen geriatrischen Hausbesuchen möglich ist, sind im Gang. Was die Prävention von Unfällen (Stürzen) und körperlicher Behinderungen betrifft, sind sicherlich weitere Fortschritte möglich.

Andererseits ist mittelfristig eine deutliche Zunahme der Zahl von geistig behinderten, demenzkranken Betagten zu erwarten, da momentan noch keine eindeutige Prävention oder Rehabilitation hirnorganischer Störungen möglich ist. Der Anteil von pflegebedürftigen Betagten mit hirnorganischen Störungen dürfte deshalb weiter ansteigen (von heute 54 Prozent auf möglicherweise über 60 Prozent aller Pflegebedürftigen). Die Entwicklung neuerer Medikamente kann allerdings dazu führen, dass der Verlauf der dementiellen Krankheiten verzögert wird. Dabei ist unklar, ob leicht oder mittelschwer demente Patienten leichter zu pflegen sind als schwer Demente. Da Demenz häufiger als andere Behinderungen zur Institutionalisierung führt, leiden etwa 70 Prozent der betagten Insassen von Pflegeeinrichtungen an Demenz, oft kombiniert mit anderen, körperlichen Krankheiten.

Neben den demographischen und gesundheitlichen Veränderungen sind in den nächsten Jahren auch einige soziale Veränderungen zu erwarten.

Wer wird in den nächsten Jahren vermehrt in Alters- und Pflegeheime eintreten? Im Grunde genommen ist es die Elterngeneration der "Baby-Boom" Generation. Es ist eine erste Wohlstandsgeneration, die ihre Familiengründung und Berufskarriere während der Nachkriegskonjunktur erlebte. Diese Generation ist etwas vereinfacht -durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

  • Sie ist wohlhabender und reicher als die vorherige Generation. Es handelt sich oft um anspruchsvolle Konsumentlnnen, die ein Heim mit Hotelstandards vergleichen.
  • Es ist eine Generation, die privates Familienleben und Freizeit stark betonen, und die auch aus solchen Gründen kollektiven Wohnformen skeptisch gegenübersteht.
  • Es ist eine Generation, die im Vergleich zur vorherigen Generation häufig eine Familie gründete. Der Anteil der Ledigen und Kinderlosen ist gering. Trotz Scheidung wird in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren mit einer deutlichen Zunahme im Anteil betagter Paare zu rechnen sein.
  • Es ist eine Generation, die noch stark traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenmustern unterliegt. Vor allem die Männer dieser Generation leiden unter sozial bedingter Unselbständigkeit.

Bei Bedarfsplanungen ist sicherlich zu beachten, dass die demographische Alterung regional stark variiert. Ein besonders wichtiger Trend ist die Verlagerung der demographischen Alterung: Die anfänglich in und um die Kernstadtmitte feststellbare demographische Alterung der Bevölkerung verlagert sich im Zuge von Todesfällen und Wegzug älterer MieterInnen und einer Wiederbelegung freier Wohnung durch jüngere Leute sukzessive an den Stadtrand und in die Umlandsgemeinden. In anderen Worten: Es sind Stadtrand und Umlandsgemeinden, die momentan die deutlichste demographische Alterung erleben. Hingegen hat die demographische Alterung einiger Kerngebiete ihren Höhepunkt schon wieder überschritten.

Diese räumliche Verlagerung und Auslagerung der demographischen Alterung ins Stadtumland hat sachgemäss schwerwiegende alterspolitische Konsequenzen. So werden plötzlich Umlandsgemeinden und Agglomerationsgemeinden mit einer raschen demographischen Alterung konfrontiert, die sich mit Fragen des Alters (Wohnformen im Alter, Integration und Pflege betagter Menschen) noch wenig beschäftigt haben. Innert vergleichsweise kurzer Zeit müssen entsprechende Angebote und Strukturen aufgebaut werden (wogegen in Kerngebieten etablierte Alterseinrichtungen wiederum weniger nachgefragt werden).

von François Höpflinger,Professor für Soziologie an der Universität Zürich
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion

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IVB / 08.01.2003